Unbequem, aber wichtig

Ein Blindenstock auf dem Bürgersteig
Ein Blindenstock auf dem Bürgersteig

Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu ignorieren, kann sich eine demokratische Gesellschaft nicht leisten!

Während ich diese Gedanken notiere, sitze ich im Zug nach Wien. Ein Zustand, der lange nicht möglich schien. Denn die von mir angeforderte Umsteigehilfe über die Mobilitätsservicezentrale der DB, kam nicht, um mich von der S-Bahn abzuholen und zum richtigen Bahnsteig, Vagon und Sitz zu bringen. Ich sitze dennoch hier, weil ich nach mehrmaligem erfolglosem Telefonieren, um jemanden doch noch zu erreichen, selbst gesucht habe. Das war mir aber nur möglich, weil ich

  1. Den Hauptbahnhof gut kenne, weil ich das Privileg hatte, mir hier alles von einer Mobilitätstrainerin zeigen zu lassen.
  2. Weil ich alle relevanten Zugdaten (Fahrtzeit, Zugnummer, Gleis, etc.) kannte und weil sich diese nicht wie oft genug, kurzfristig geändert hatten, sodass ich nicht in den falschen Zug gestiegen bin.
  3. Ich bin dem österreichischen Dialekt der Fahrgeste gefolgt, weil ich dachte: ein Österreicher kann zwar überall hin, aber so viele auf einmal, wollen wohl nach Wien.
  4. Ich habe einfach ungeniert gefragt, einmal, zwei Mal, bis zum Erreichen meines Sitzplatzes, von dem ich diese Zeilen tippe, fünf Mal, etwas wozu ich mich vor wenigen Jahren niemals hätte durchringen können.

Dieser Fall verdeutlicht, dass wenn die Angebote, die uns Menschen mit Behinderung, das Leben erleichtern sollen, so unzuverlässig sind wie aktuell, noch mehr Probleme entstehen, die sich meistens nicht lösen lassen.

Es ist schon ein Einschnitt, nicht spontan reisen oder seinen Reiseplan ändern zu können, weil man mindestens 2 Tage davor alle möglichen Verbindungen auswendig haben muss und die Umsteigehilfe beantragen. So ist eine Gleichberechtigte Teilhabe aber nahezu unmöglich.

Wenn ich solche Situationen durchlebe, beschleicht mich immer das Gefühl, einer modernen, digitalisierten und auf Zeit- und Geldersparnis optimierten Gesellschaft, nicht zu genügen und niemals genügen zu können. Dieses Gefühl, verspüre ich glücklicherweise sehr selten, v.a. weil ich von vielen freundlichen Personen gelernt habe, ein bisschen selbstständiger zu sein. Wenn ich dieses Gefühl aber verspüre, ist es die Hölle. Ich kann mir vorstellen, dass sich viele Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen so fühlen. Und das tuen sie still, unbemerkt vom Rest der Gesellschaft, auf die alle Annehmlichkeiten des personenlosen Buchens, digitalen Kaufens oder effizienten Reisens, ausgerichtet sind. Auf uns, sind sie es nicht. Dass man sich nicht zugehörig, nicht wichtig genug fühlt, ist, so glaube ich, verständlich.

Wenn bspw. die Person am Schalter durch einen Automaten ersetzt wird, wird vielleicht Geld gespart, vielleicht wird die Dienstleistung sogar von der Maschine schneller erbracht als von Menschen, für mich aber, der das Menü des Automatendisplays nicht erkennen kann, ist es die Hölle. Ich bin von Hilfe einer anderen Person abhängig, und zwar einer Person, der ich vertrauen kann. Denn wer will z.B., dass man beim Geldabheben, einem Unbekannten seine PIN preisgibt?

Es muss noch viel, sehr viel passieren, bis sich dieses Gefühl chronischer Unzulänglichkeit, endgültig in Luft auflöst. Dafür muss dem stetigen Wegschauen ein Ende bereitet werden. Mehr als jede*r Zehnte gilt als behindert. Es ist verantwortungslos, über 10% der Bevölkerung von gleichwertigen Lebensverhältnissen auszuschließen.

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