Identitätspolitik

Über die Neuvermessung gesellschaftlicher Konventionen

Die sog. „Identitätsdebatte“ hat längst das Schlachtfeld der Feuilletons (1) verlassen und scheint immer häufiger Gegenstand hitziger Küchentischdebatten zu werden. Erst einmal bedeutet das, dass dieses Thema die Breite der Gesellschaft erreicht hat, dass es die Menschen beschäftigt und sie das Bedürfnis spüren, sich dazu zu positionieren. Dabei verändern sich traditionelle Meinungsgrenzen und Lagerpositionen, was besonders den Politikwissenschaftler in mir interessiert. Beispielsweise hätte ich bis vor kurzem gedacht, eher fröre die Hölle zu als dass mein konservativ erzogener und wirtschaftsliberal denkender Vater, Sahra Wagenknecht offen zustimmen würde, während ich, der ihre Position oft ihm gegenüber verteidigte, kaum mehr als Kopfschütteln für ihre Aussagen übrig hätte.

Die Identitätspolitik verändert, worüber, mit wem, aber auch wie wir miteinander reden. Ich erlebe das besonders in meinem Alltag, wo ich mich oft als Grenzgänger zwischen einigen Milieus fühle. Recht konservative Familie und Bekannte prallen mit ihren Weltanschauungen auf die meiner Parteifreund*innen und Wegbegleiter*innen im Aktivismus. Einerseits erlebe ich Debatten über Binnen I oder * als korrekter Ausdrucksweise, andererseits muss ich zum hundertsten Mal erklären, dass das N-Wort kein normales Wort ist, auch wenn man das vor 50 Jahren vielleicht problemlos sagen durfte.

Es dreht sich viel um Sprache, viel um Gewohnheiten, die von vielen als unproblematisch wahrgenommen werden, v.a. weil sie nicht durch diese Strukturen oder Worte degradiert oder entrechtet werden. Der Frontalangriff gegen diese Menschen aber, so erlebe ich es zumindest, treibt sie direkt in rechtsautoritäre Abwehrstrategien, die mit ihren vollkommen abstrusen Vorwürfen von „cancel culture“ (2) und „Meinungsdiktatur“ den Dialog vollkommen torpedieren. Nicht die Menschen, sondern die Strukturen, die Ungleichheiten verstärken müssen frontal angegangen werden. Denn jede*r hat das Recht, gleichberechtigt leben zu können.

„Der Verteilungskampf von Anerkennung und Mitbestimmung prägt unsere Zeit.“

Die Identitätspolitik ist eine diskursive Strategie von benachteiligten Gruppen, um sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Entwickelt wurde sie in den 70ern in den USA von einer Gruppe schwarzer Feminist*innen, die auf die besondere Form der Diskriminierung gegen nicht weiße Frauen, hinwiesen. Kombinierte Formen von Diskriminierung werden heute oft unter dem Stichwort „Intersektionalität“ zusammengefasst.

 Die von mir eingeforderte Differenzierung zwischen Person und Position soll diese meist scharf geführte Debatte befrieden und gleichzeitig den Fokus auf das lenken, was die benachteiligten Gruppen im Kern einfordern: mehr Sichtbarkeit, mehr Respekt, mehr Beteiligung und Repräsentation ihrer Interessenvertretungen. Aktuell verbessert sich wenig für queere Menschen, Frauen, Migrant*innen, schwarze oder Menschen mit Behinderung, weil viel zu oft die allzu bequeme Abwehrhaltung etablierter Stimmen nicht qualifiziert herausgefordert werden. Geschickt lenken konservative Medienhäuser oder Rechtspopulist*innen die Debatte auf vermeintlich obsolete Nischenthemen, verballhornen Gendergerechte Sprache und bagatellisieren die Forderungen der Aktivist*innen, denn „es gäbe doch wichtigeres als * etc.“. Die Sprache ist aber nur der Ausdruck, das Vehikel ungerechter Strukturen und Denkmuster.

Warum bekommen Bewerber*innen mit türkisch klingendem Namen schwerer eine Wohnung? Warum werden queere oder behinderte Personen systematisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen? Warum haben Kinder von Migrant*innen fast keine Chance auf höhere Bildungsabschlüsse? Das sind alles Fragen, die relevant sind. Sie alle weisen auf Missstände in unserem Staat hin, die mit unserem Anspruch einer liberalen und gerechten Gesellschaft nicht vereinbar sind; die dem Grundgesetz diametral widersprechen. Das sind Zustände, die wir Privilegierten nicht hinnehmen können, wenn uns etwas an den Werten dieses Landes, dieser Republik liegt. Und v.a. stehen diese Forderungen nicht in irgendeinem Gegensatz zur klassischen Sozialpolitik, wie viele Strukturkonservative versuchen zu behaupten.

Zwischen „wir gegen die“ und in Vielfalt geeint

Der Riss durch das linke Lager, zwischen „woken“ (3) Linksliberalen und Altlinken ist daher zwar nicht konstruiert aber obsolet ist er allemal. Das neue Buch von Sahra Wagenknecht „die Selbstgerechten“ (4) leistet der Annäherung beider Positionen leider keine Hilfestellung. Sie diffamiert linksliberale als „Lifestyle Linke“ und wirft ihnen vor, die Lebenswelt der Arbeiter*innen nicht länger nachvollziehen zu können. Sie mag damit in Teilen Recht haben. Manchen ihrer Aussagen kann ich größtenteils zustimmen und ich kaufe ihr eine aufrichtige Sorge um den sozialen Zusammenhalt in diesem Land ab. Aber so wie sie viele ihrer Argumente verpackt, liefert sie Vorlagen an die Rechte.

Das Problem von Wagenknecht oder auch anderen wie Wolfgang Thierse (5) ist, dass sie der reaktionären Erzählung einer Dichotomie zwischen Minderheitenschutz und Arbeitnehmerpolitik auf den Leim gehen. Dabei ist es kein „entweder oder“, sondern ein „zusammendenken“, welches wirklich erfolgversprechend ist. Ich habe nicht aus Zufall oben Beispiele genannt, die klassische sozialökonomische Ungleichheiten mit identitätspolitischen Themen zusammenbringen.

„Gerechtigkeit braucht Universalismus! Partikularinteressen schaffen keine Solidarität.“

In einer durchneoliberalisierten Welt mit gleichzeitig erstarkendem Autoritarismus, sind die Ebenen der Ungerechtigkeit so eng miteinander verbunden wie selten. Minderheiten, die politisch und diskursiv ausgeschlossen wurden und werden, stehen auch sozioökonomisch unter Druck. Gleichzeitig werden wirtschaftliche Randgruppen auch stark in ihren politischen Mitwirkungsrechten beschränkt. Wieso nicht Identitätspolitik für die ca. 20% Erwerbstätigen in prekärer Beschäftigung machen? Wieso nicht der Parole: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Alle Ehre machen und soziale Gerechtigkeit endlich in globalen Maßstäben denken? Wieso sich nicht darauf besinnen, dass die Leidtragenden sämtlicher Machtgefälle, egal ob weiß oder schwarz, Mann, Frau oder Divers, jung oder alt, hetero oder nicht, im selben Bot sitzen und für sehr ähnliche Ziele kämpfen? Wieso nicht daran glauben, dass Gerechtigkeit für ausnahmslos alle möglich und nötig ist?

Wenn wir uns weiter spalten lassen, gewinnen diejenigen, die weder für eine noch für die andere Gruppe Verbesserungen erreichen wollen, weil sie die Profiteure bestehender Machtgefälle sind. Die Unterprivilegierten werden gleiche Rechte nur erkämpfen können, wenn sie sich zusammenschließen (6). Wie im besten Sinne einer Gewerkschaft, für die Aufhebung ökonomischer, kultureller und politischer Schieflagen einstehen.

P.S. Zur Transparenz: Der Autor ist ein weißer cis-Mann, der trotz Einwanderungsgeschichte, deutscher Muttersprachler ist und trotz einer Sehbehinderung, diesbezüglich kaum Diskriminierungserfahrungen erleben musste.

Fußnoten

  1. Feuilletondebatte zu Identitätspolitik z.B. in der Zeit https://www.zeit.de/2021/09/pressefreiheit-journalismus-gesellschaft-spaltung-politik
  2. Unter „cancel culture“ werden sprachliche Grundsätze im Sinne einer diskriminierungsfreien Schreib- und Sprechweise als bevormundend bzw. vermeintlich meinungseinschränkend kritisiert.
  3. „woke“ sind Personen, die für die Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten sensibilisiert sind oder sich als solche begreifen.
  4. Sahra Wagenknechts Buch „die Selbstgerechten“ greift progressive Grundsätze an und wurde stark kritisiert. https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/die-selbstgerechten/gemeinsam-statt-egoistisch
  5. Wolfgang Thierse hat mit seinem Gastbeitrag in der FAZ eine lange schwelende Kontroverse in seiner Partei, der SPD befeuert. https://www.thierse.de/startseite-meldungen/22-februar-2021/
  6. Zwei besonders gelungene Plädoyers für gegenseitige Verständigung und Annäherung in der unversöhnlichen Identitätsdebatte finden sich hier
  7. https://taz.de/Identitaetspolitik-und-Cancel-Culture/!5756669/
  8. https://taz.de/Debatte-um-Minderheiten/!5752570/

Quellen

Die Kontroverse über Identitätspolitik in der SPD:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.