Über den Kampf um Deutungshoheit
Die aktuelle politische Debatte ist oft aufgeheizt und von scheinbar unüberwindbaren Gegensätzen unterschiedlicher Lager gekennzeichnet. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Vorwurf des Moralismus, ein gerne genutztes Mittel, um die Gegenseite bloßzustellen.
Um dem Problem auf den Grund zu gehen, muss allerdings zunächst noch Moral von Moralismus unterschieden werden. Ich versuche mich an einer Definition, die keineswegs wissenschaftlich gesichert, sondern auf persönlichem Eindruck basiert. Während Moral eine persönliche Haltung, eine Ethik bzw. ein Kanon an Überzeugungen darstellt, mit dessen Hilfe individuelle Leitlinien für ein gutes Leben festgelegt werden können, scheint mir Moralismus derart negativ konnotiert zu sein, dass sich eine „Moralismuskeule“ als probates Mittel diskursiver und folglich auch ideologischer Selbstimmunisierung herauskristallisieren konnte. Der „Moralist“ so die Lesart, geht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt, ist überheblich und predigt Wasser, während er Wein trinkt. Kurzum, eine Gestalt mit der man nicht assoziiert werden will. Wäre diese Trennschärfe gegeben, so wäre die Debatte darüber hier beendet. Aber leider wie so oft, ist es deutlich komplizierter.
Denn viele der Gruppen, die anderen Moralismus vorwerfen, versuchen damit nicht nur eine Politik ohne rigorosen Moralismus zu etablieren, sondern eine Politik gänzlich ohne Moral und das ist in meinen Augen problematisch.
Veranschaulicht wird das im Kampfbegriff der vermeintlichen „Antimoralisten“ besonders gut, der beleidigend gebrauchte Ausdruck des „Gutmenschen“. Das sind Leute, die sich für Gleichberechtigung, sexuelle Minderheiten oder Geflüchtete eingesetzt haben, also gemäß ihrer moralischen Überzeugung, politisch gehandelt haben. Wenn uns diese intrinsische Motivation und Begründung, eigenen Handelns verboten würde, was bliebe uns da noch? Wahrscheinlich ein vollkommen verzerrtes Bild von Rationalität, naiv verkennend, wie ideologisch dehnbar jegliche Statistik oder anscheinend objektive Studie ist.
Ohne Moral keine Politik
Ja, Moral ist höchst Subjektiv und Biographie- sowie Milieuabhängig. Aber sie konstituiert eine Gesellschaft, ihren Wertekanon und ihre Identifikationsgrundlage. Sie aus dem Politischen Raum zu verbannen, würde soziale Dynamiken zum Erliegen bringen, Gerechtigkeitssinn entkernen und Grundrechte delegitimieren.
Moral ist nur in Zivilisation, im sozialen Raum relevant, also zumindest indirekt immer politisch. Und Politik ohne Moral ist Verwaltungsbürokratie.
Der Moralismus aber, wirkt entpolitisierend, denn er versucht rigoros und missionarisch eine individuelle Moralvorstellung als Grundsatz für andere festzulegen. Das ist nicht nur apolitisch sondern sogar antipolitisch. Die Alternativen werden vernachlässigt, es entsteht ein verkürztes, autoritäres Freund-Feind-Weltbild, das Sie ahnen es, genau den Kräften zupasskommt, die die Moral mit Hilfe der Moralismuskeule, aus der Politik zu drängen versuchen. Moral geht weit über christliche Nächstenliebe hinaus, aber bereits das ist Sozialdarwinisten und Xenophoben ein Dorn im Auge. Die Menschen öffentlich anzugreifen, die nach diesem Prinzip agieren ist der Versuch, die Werte, die aus den Taten dieser Menschen sprechen, gesellschaftlich an den Rand zu drängen. Wir erleben das in besonderer Schärfe an der Kriminalisierung von Seenotretter*innen bei uns vor Ort oder von Menschenrechtsaktivist*innen jeglicher Art in Ländern wie Brasilien, Honduras, Philippinen oder China.
So sind die schrillsten Gegner des Moralismus und einer angeblichen Hypermoralisierung der Gesellschaft, oft diejenigen, die moralisierend argumentieren, zumindest was die fehlende Akzeptanz divergierender Meinungen betrifft. Denn wer auf Grundlage moralischer Überzeugungen entscheidet, handelt und diese Taten begründet, ist sich stets der eigenen Fehlbarkeit bewusst, ein Moralist nicht. Das Problem ist also nicht die Moral im politischen Diskurs, sondern unser fehlendes Verständnis für andere Meinungen und Wertvorstellungen. Eine Akzeptanz des Pluralismus ist dringend geboten, auch um Moral in der Politik gegen Rechts zu verteidigen.
Quellen:
- WDR5 das philosophische Radio vom 12.03.2021: https://wdrmedien-a.akamaihd.net/medp/podcast/weltweit/fsk0/239/2390989/wdr5dasphilosophischeradio_2021-03-15_trennscharfmoralundmoralismus_wdr5.mp3
- Kritik des Moralismus von C. Neuhäuser & C. Seidel (Suhrkamp-Verlag)