Suche nach der Mitte

Über einen Begriff & seine politisch-suggestive Kraft

Die „politische Mitte“ genießt im Deutschen Diskurs Kultstatus. Dabei drängt sich die Frage, angesichts vielfältigster Wahrnehmungen über diese Mitte auf, ob sie überhaupt existiert, greifbar ist und wenn ja, wo sie sich finden lässt.

Alexander Dobrindt hat Anfang 2018 Für Schlagzeilen gesorgt, als er davon sprach, eine Konservative Revolution in Deutschland anzustreben. Dass er angesichts seiner Promotion in Soziologie an der LMU München, keinerlei Kenntnis über den Ursprung dieses Begriffs und seiner Ideologie besitzt, ist mehr als unwahrscheinlich.

Wenige Monate später löste er Empörung aus, als er in einer Talk-Show, Union, FDP und AfD als Teil eines gemeinsamen, bürgerlichen Lagers definierte, SPD, Grüne und Linke davon ausschloss.

„Bürgerlich“, dieses Wort wird gerne von Konservativen als Synonym für politische Mitte gebraucht, auf deren Suche sich dieser Artikel begibt. Verkürzt heißt es, dass die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ emotionsarm, wohlüberlegt, langfristig und gutbürgerlich plant, fleißig und ehrlich arbeitet, um ein kleinbürgerliches und sicheres Leben zu führen. Schon hier sind vordergründig unpolitische Motive verwoben, die in der Deutschen Geschichte politische Bedeutung erlangt haben. So ist der typisch kleinbürgerliche Rückzug aus der Öffentlichkeit, hin zur Familie, wohl das wichtigste Prinzip der Biedermeier Strömung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Werte wie Fleiß, Loyalität und Rechtschaffenheit wurden v.a. im Preußischen Reich als natürliche „Wesensmerkmale des Deutschen Mannes“ stilisiert und von Antidemokraten der Weimarer Republik aufgegriffen, wie auch von dem darauffolgenden NS-Regime.

Die genuin politische Botschaft aber aus diesem Konstrukt der bürgerlichen Mitte ist, dass wer sich der Mitte zurechnen will, keine Extreme wählt oder unterstützt. Das klingt doch zunächst einleuchtend und sinnvoll, ist angesichts der Kriegszerstörung für eine Nachkriegsgesellschaft sogar äußerst verständlich, hat im Laufe der Zeit aber auch Probleme verursacht, die kaum zur Sprache kommen.

Unpolitische Grundhaltung als Kernmerkmal

Der politische Raum gilt in diesen Kreisen oft als unschicklich, verworren, v.a. aber stören sich gutbürgerliche Milieus mit einem erzwungenen intellektuellen Duktus daran, dass der politische Raum keinen Unterschied zwischen ihnen und „dem gemeinen Volk“ machen sollte. Die Grundhaltung, die im biedermeierlichen Rückzug inbegriffen ist, entspricht einer Abschottungstendenz aus elitärer Verachtung des Plebs¹. Die Ochlokratie, also die Herrschaft der Ungebildeten, ist ihnen ein Graus. Doch eben das macht eine Republik, eine respublica also eine geteilte Öffentlichkeit aus. 

„Die Mitte“ also zelebriert ihren Bildungsstand, ihre Elaborationsfähigkeit und ihr Differenzierungsvermögen in Abgrenzung zu anderen Schichten und begründet dadurch ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Führungsanspruch. Dabei kann die Differenzierung, kombiniert mit der apolitischen Grundhaltung leicht zur Relativierung mutieren. So entstehen Aussagen, dass linker und rechter Rand gleichermaßen schlecht und gefährlich seien, eine v.a. in heutigen Tagen problematische Feststellung. Der Wunsch, sich nicht zu positionieren, macht dieses Milieu anfällig für demagogische Instrumentalisierung, wie wir sie in den letzten Jahren erleben.  

Ein verrostetes Hufeisen

Die Mitte ist gut, die Ränder schlecht. Das ist die Kernaussage der Hufeisentheorie. Sie wurde besonders im Nachkriegsdeutschland propagiert und von der Mehrheitsgesellschaft dankend angenommen, da sie sie von jeglicher Verantwortung ob der Gräueltaten vorhergehender Jahre, zu entbinden erlaubte. Die Partei, die dieses Selbstverständnis verkörpert hat, ist die Union. Sie spricht noch heute von „Äquidistanz“ zwischen Linker und AFD, will partout nicht mit der Linken koalieren oder gar kooperieren, obwohl sie in Keinster Weise mit der Verfassungsfeindlichkeit einer AFD zu vergleichen ist. Das birgt nicht nur Gefahren für den parlamentarischen Betrieb, wenn die Mehrheitsverhältnisse keine anderen Optionen hergeben, wie es in Thüringen der Fall ist. Sondern verharmlost Radikalismen, die eine ideologische Nähe zur Plebs-kritischen Grundhaltung aufweisen. Zudem werden Phänomene durch diese Theorie verleugnet, wie bspw. den „Rassismus der Mitte“, was wiederum ihre Anfälligkeit für rassistische Tendenzen zusätzlich erhöht.

Kurzum, das Hufeisen ist eine einfache Schablone, um sich die Welt so bequem wie möglich einzuteilen, sich jeglicher Verantwortlichkeit für bestehende Probleme zu entledigen und undifferenzierte, elitäre Kritik an anderen politischen Lagern üben zu können. Dieses Zerrbild hat zur Folge, dass strukturelle Probleme der deutschen Gesellschaft, niemals als solche zum Vorschein kommen, weil die Kraft der Selbstimmunisierung der „Mitte“, auf Öffentlichkeit und Medien übergreift.

   Lasst uns dieses veraltete Modell aufgeben. Lasst uns der „Mitte“ und all jenen, die sich hinter ihr zu verstecken versuchen mehr zutrauen und auch abverlangen. Es gibt keine „besseren Menschen“ in einer Demokratie. Das Grundgesetz kennt keine Hufeisen und schon gar keine Kaste, die sich einen moralischen Führungsanspruch erlauben darf. Eine Mitte, die sich durch nichts kennzeichnet und für nichts steht, ist wertlos und sogar gefährlich. Geben wir den Antidemokrat*innen keine Gelegenheit, unsere Gesellschaft zu vergiften.²

Meine Kritik versucht im klaren Antischmittianismus die verbliebenen antiliberalen Tendenzen in Teilen des Bürgertums und „der Mitte“ auszumerzen.³

Fußnoten:

¹ Plebs (lat. Pöbel): So wurden die Menschen niederen Standes (bereits in der Antike) genannt, v.a. mit dem Ziel sie auch begrifflich von wohlhabenden Vollbürgern und adeligen Patriziern abzugrenzen.

Heute wird Plebs eher mit Volk assoziiert i.bs. aufgrund der Verwendung des Wortes Plebiszit für Volksabstimmung.

² Meine Kritik an bürgerlichen Milieus, die im Artikel mit innbegriffen ist, stellt auch eine Selbstkritik dar, da ich mit diesen Milieus stark verbandelt bin.

³ Antischmittianische Grundhaltung bedeutet, in einer liberal-demokratischen Tradition das Bürgertum nicht wie Carl Schmitt (ein prominenter Vertreter der Weimarer Rechten), für seine Nähe zu Parlamentarismus, Deliberation und Menschenrechten zu kritisieren, sondern im diametralen Gegenzug die antipluralistischen und sezessionistischen Elemente des bürgerlichen Selbstverständnisses zu geißeln, um die liberale Demokratie resilienter gegenüber Carl Schmitts geistigen Nachfolger*innen zu machen.

Quelle:

Hierzu wären unzählige Quellen angebracht. Ich belasse es aber bei lediglich einem Kommentar der Schweizer Wochenzeitung, der sich anlässlich des 100-jährigen Geburtstages von Sophie Scholl mit der Frage befasst, weshalb sich die Erzählung einer bürgerlichen Mitte als Versicherung gegen Radikalismen, trotz mehrfacher Widerlegung noch prominent hält: https://www.woz.ch/-b8c8

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