Der immer wiederkehrende Menschheitsfehler
Seit Jahren erleben wir, dass überwunden geglaubte Methoden zur vermeintlichen Sicherung, sich steigender Beliebtheit erfreuen. Besonders frappant ist diese Entwicklung in Bezug auf Zäune und Mauern. Bestehende Anlagen werden ausgebaut und neue errichtet. Am bekanntesten sind sicherlich die „große Mauer“ zu Mexiko, die Trump errichten und von den Mexikaner*innen selbst bezahlen lassen wollte¹ oder das seit fast 20 Jahren verriegelte Gaza, die Grenze zwischen Nord- und Südkorea oder die mit Abstand älteste von ihnen, die chinesische Mauer.
All diese bestehenden Mauern wurden mit dem Versprechen errichtet, vor einer hinter der Mauer befindlichen Gefahr zu schützen. Dabei können Mauern schon lange nicht mehr Kanonen und schon gar nicht Menschen aufhalten. Das ist übrigens der Grund, wieso wir heute nicht mehr in Burgen leben, sondern diese zu Ruinen verfallen sind. Mauern sollen v.a. die gefühlte Sicherheit, also die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit, der innerhalb der Mauer befindlichen Personen steigern. Manchmal ist das plausibler, manchmal weniger wie z.B. beim sog. „Antifaschistischen Schutzwall“, der glücklicherweise nicht mehr besteht.
„Ein Land, das sich abschottet oder einmauert, ist im Verfall begriffen!“
Allen Erfahrungen zum Trotz, setzen viele Regierungen verstärkt wieder auf Mauern. Ungarn baute einen Zaun, um Geflüchtete aufzuhalten, Griechenland schwimmende Barrieren vor seinen Inseln und jetzt Polen an der Grenze zu Belarus, immer aus demselben Grund. Die letztgenannte Grenze stand in den letzten Monaten im Fokus, weil der belarussische Diktator gezielt Personen aus dem mittleren Osten an die Grenze gelockt zu haben scheint, um die EU zu erpressen. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die moralisch gebotene Hilfeleistung den Menschen gegenüber, deutlich einfacher unterlassen werden konnte. Stattdessen haben fast alle EU-Staaten sich an die Seite der polnischen Regierung gestellt. Eine Regierung wohlgemerkt, die im Inland den Rechtsstaat untergräbt und queere sowie Frauen entrechtet, die EU destabilisiert und menschenverachtend mit Notleidenden und Schutzsuchenden umgeht.
Und so wird sie nun gebaut, mitten im Urwald zwischen Polen und Belarus, mit Stahlstreben, ähnelt sie einer Palisadenstruktur. Doch während die bekanntesten Palisaden der Geschichte, der Limes zwischen dem römischen Reich und Germanien, lange durchlässig war und somit gegenseitigen Austausch und Handel ermöglichte, soll dieser Limes aus Stahl alles abwehren, was „das „christliche Europa“ bedrohen könnte“.
Der Vergleich zum antiken Rom ist hier bewusst gewählt. Denn allgemeinhin wird sein Niedergang mit der „Völkerwanderung“, also dem Einfallen germanischer Stämme in das weströmische Reich, in Verbindung gesetzt. Das gilt es in der EU natürlich zu verhindern, argumentieren viele Konservative. Dabei ist das Imperium Romanum in einem langen Prozess der inneren Dekadenz gefallen. Besonders der Umstand, dass eine Wertentleerung im damaligen Gesellschaftsleben stattgefunden hat, sollte uns zu denken geben. Denn ein Reich, das sich durch Mauern schützen zu müssen glaubt, ist im inneren Werteverfall begriffen. Wenn man weiß, wer man ist, wofür man steht und wofür nicht, fürchtet man „das Andere, Fremde“ nicht, wie wenn man sich der eigenen Rolle nicht bewusst ist.
Das Einzige, was Mauern bewirken, ist eine Einengung des Horizonts derjenigen, die die Mauer errichtet haben. Die Geschichte hat gezeigt, dass es immer diese verunsicherten Gruppen, Stämme und Völker waren, die durch ihre Abschottung den Anschluss an das Weltgeschehen und die Weltentwicklung verloren haben. Die Illusion, sich eine „Insel der Glückseeligen“ schaffen zu können, darf nicht unser politisches Handeln bestimmen.
Es sind nicht die Menschen hinter der Mauer, die die EU bedrohen, sondern die Mauer selbst. Sie besiegelt den Untergang, der vermeintlich durch ihre Errichtung verhindert werden soll. Denn es ist im Umgang mit diesen Menschen hinter der Mauer, an dem sich entscheidet, ob Europa und seine Werte eine Zukunft haben.
Fußnote:
¹ Trumps Ankündigung, die Mexikaner*innen für die Kosten der „großen Mauer“ zahlen zu lassen, hat sich in einer gewissen Hinsicht bewahrheitet, jedoch sicherlich anders als er es sich gewünscht hatte. Denn die Migrant*innen aus Lateinamerika sind mittlerweile ein so erheblicher Wirtschaftsfaktor für die Binnenwirtschaft der USA, dass sie sicherlich mit ihrem Steueraufkommen, die Mauer mitfinanziert haben.