Von der Widerstandskämpferin zum Folterer in 30 Monaten

Brasilien ist meine zweite Heimat. Nicht nur weil ich die passende Staatsbürgerschaft besitze, sondern v.a. weil ein Großteil meiner Familie dort lebt und ich selbst weite Teile meiner Kindheit dort verbringen durfte. Ich habe Brasilien immer als Land wahrgenommen, das der Welt so viel zu bieten hat; in dem ein unglaubliches Potential steckt. Die Euphorie, der Zukunftsoptimismus waren omnipräsent und greifbar.

Doch das ist lange verflogen. Heute liegt ein Trümmerhaufen vor unseren Füßen, das durch den faschistischen Aufstieg in unermessliche Dimensionen auswuchs. Die Brasilianische Demokratie liegt genau dort, wo ihre Gegner*innen sie haben wollten, am Boden. Doch wie konnte das so schnell passieren?

Ein Arbeiter als Präsident?

Beginnen wir am Ursprung allen Übels, der Wahl des linken Luis Inacio Lula da Silva 2002. Zumindest würden viele „Bolsonaristas“ genau das behaupten wollen, denn er hat Dinge getan, die für die Brasilianische Elite unverzeihlich sind: Er hat Millionen Menschen aus absoluter Armut, der Obdachlosigkeit, dem Analphabetismus und ungeregelten Arbeitsverhältnissen gebracht; seine Regierung hat den Hunger bekämpft, Krankenhäuser und schulen gebaut. Kurzum, Lula hat es gewagt, ein bisschen Wohlstand umzuverteilen und einige wenige der Privilegien einzugrenzen. Bis über seine Amtsperiode hinaus, war er mit Abstand der beliebteste Politiker des Landes und führte auch die Umfragen zur Präsidentschaftswahl 2018 deutlich an.

 Eine Frau wird Präsidenta

Und nicht irgendeine. Nach den 8 Jahren Lula-Regierung, übernahm seine Nachfolgerin und Parteigenossin Dilma Rousseff das Amt. Schon während der Militärdiktatur war sie Oppositionelle und wurde vom Regime gefoltert. In ihrer Präsidentschaft drehte die Stimmung gegenüber der PT-Regierung. Sie konnte nicht wie Lula auf eine motivierte, breite Anhängerschaft bauen, denn charismatisch war sie kaum. Es begann sich abzuzeichnen, dass die andere Großpartei Brasiliens, die gemäßigt konservative PSDB einen Rechtsdrift einlegte. Die Medien schienen diesen Ruck mitzugehen.

Mitte 2013 breiteten sich Proteste in Sao Paulo aus, die zunächst die Fahrpreiserhöhung in den Bussen und U-Bahnen der Stadt beanstandeten. Schon bald wurden sie zum Anlass, die gesamte Regierungspolitik zu kritisieren. Der Protest war nun in ganz Brasilien präsent. Damals im Fokus war die Korruptionsbekämpfung, da in den Monaten zuvor, einige Bestechungsskandale aus regierungsnahen Parteien aufgedeckt wurden. Vor Allem wurden die zu hohen Kosten von WM 2014 und Olympia 2016 angeprangert, um eine bessere Infrastruktur zu fordern. Rasch, wurden die Demonstrationen zum social-media-event. Man ging hin, um ein schönes Foto für facebook zu machen. Das ging zu Lasten der inhaltlichen Forderungen der Protestbewegung. Diese Gemengelage wurde von rechtsradikalen Strömungen ausgenutzt, um sich an die Spitze der Proteste zu setzen und die aufgebrachte Menge zu radikalisieren. Schon Ende 2013 war diese Radikalisierung in Ansätzen erkennbar. Heute gilt dieser Protest als Keimzelle des Wahlsieges von Bolsonaro in 2018.

Dennoch gewann Rousseff die Wahl 2014 gegen ihren PSDB Herausforderer Aécio neves. Anstatt wie es sich für einen Demokraten gehört, akzeptierte er das Wahlergebnis jedoch nicht und untergrub somit die Glaubwürdigkeit der Brasilianischen Demokratie. Die akuten Folgen hielten sich zwar in Grenzen, Rousseff wurde wieder vereidigt, aber die Institutionen waren empfindlich geschwächt und blieben es…

               Zum Thema s. „Demokratiekrise durch Vertrauensverlust“ vom Oktober 2020

Ein Machtvakuum

Zu Beginn der neuen Amtsperiode mehrten sich bereits die Vorwürfe der Bilanzfälschung bei der Haushaltsauskunft durch Rousseffs Regierung. Unter dem Namen „pedaladas fiscais“ also etwa fiskalische Dribblings wurde es bekannt. Die Indizien waren wage und dünn, die vermeintliche Bilanzfälschung eigentlich ein Abrechnungsfehler, der schon vielen Vorgängern unterlaufen war. Aber die öffentliche Stimmung, der Zeitgeist stand gegen sie… Immer wenn jemand angeklagt war, galt er oder sie sofort als schuldig v.a. wenn es ein Mitglied der Linken war. So wurde ein Impeachment-Verfahren zur Amtsenthebung gegen Dilma Rousseff eingeleitet.

In einer chaotischen Abstimmung im Kongress, wurde die Absetzung besiegelt. Möglich war das nur, weil die damals 3. Größte Partei PMDB, der Koalitionspartner der PT-Präsidentin, kurzerhand die Seiten wechselte. Ob aus Machtkalkül, Korruption oder beidem, weiß keiner so genau. Schon damals viel ein Abgeordneter bei der Abstimmung besonders auf, Jair Messias Bolsonaro, damals Hinterbänkler des PSL. Seine 1 minütigen Erklärungsrede zur Zustimmung des Amtsenthebungsantrags, widmete er dem höchsten Folterer der Militärdiktatur, Brilhiante Ustra und fügte hinzu, dass die Oppositionellen und Rousseff die Militärs nie in einer Wahl haben besiegen können. Diese Minute gab einen kleinen Vorgeschmack auf die kommenden Jahre und die Präsidentschaft Bolsonaros.

Die Arbeiterpartei war also abgesetzt, auf eine zumindest umstrittene Art und Weise. Und es übernahm Rousseffs Vize, Michel Temer vom PMDB. Die PMDB regierte die restlichen 2 Jahre mit Bestechungen von Kleinstparteien, Temer trat weder in Erscheinung noch erweckte er den Eindruck, aus seinem Amt irgendeinen Mehrwert für die durch ihn regierte Bevölkerung generieren zu wollen. Das Land war faktisch regierungslos und die Linke musste sich von dem doppelten Tiefschlag erholen.

Ein politischer Richter

Denn schon vor der endgültigen Absetzung Rousseffs stand die linke Galionsfigur unter Druck. 2015 begann das Vorhaben „lava a jato“ (Autowäsche), das den Expräsidenten Lula ins Visier nahm. „Lula der korrupte Vaterlandsverräter“ schallte es dann aus allen Ecken des Landes.

Der mit dem Fall vertraute Star-Richter des 4. Regional-Bundesgerichts in Curitiba, Sergio Mouro wurde zum Heiligen stilisiert, tourte mit Vorträgen zum Fall sogar bis in Hörsäle US-Amerikanischer Hochschulen und wurde zum Liebling der Medien erkoren. Heute wissen wir, dass der Jurist Politik machen wollte und law & order Entscheidungen traf. In geheimen Absprachen mit der Anklage, die längst in Mitschnitten veröffentlicht wurden, wurde ein Szenario konstruiert, um Lula trotz fehlender Beweise schuldigsprechen zu können. Sehr hilfreich war dabei, dass die Öffentlichkeit bedingungslos auf seiner Seite stand. Lula wurde also verurteilt, zunächst zu 9 dann sogar zu 12 Jahren Haft.

Obwohl er seit etwa einem Jahr wieder auf freiem Fuß und seine Unschuld bewiesen ist, konnte Lula somit nicht an den Präsidentschaftswahlen von 2018 teilnehmen. Das war das größte Ziel Mouros und der endgültige Sieg für Bolsonaro. Der Richter wurde denn auch umgehend zum Justizminister der neuen rechtsradikalen Regierung ernannt und verdrehte rechtspositivistisch das Gesetz zu Gunsten seines Vorgesetzten bis Anfang 2020, als sich diese unvergleichliche Männerfreundschaft löste und Mouro mit großem Knall aus der Regierung ausschied. Viele gehen davon aus, dass er selbst Ambitionen auf den Präsidentensessel hegt. Wenn seine krummen Touren bis dahin nicht weite Teile der Brasilianer*innen entsetzt haben, hat er auch gute Chancen dazu.

               Zum Thema s. Gesunder Patriotismus? Vom 12.12.2018

Ein Land – zwei Gesichter

Von 2016 bis 2018 veränderte sich Brasilien dramatisch. 2016 hatte ich noch bei meinem Besuch die letzten Entscheidungen zum Impeachment Dilma Rousseffs sehr interessiert verfolgt. Es war klar, dass das Land vor einem Umbruch stand. Aber eine solche Schärfe habe ich nicht erwartet. Als ich 2 Jahre später erneut Brasilien besuchte, erkannte ich mein Land nicht wieder. Die Wirtschaftskrise und die politische Lage hatten aus gastfreundlichen Menschen und herzlichen Angehörigen, aggressive und wütende Bolsonaristas gemacht. Mit jedem Tag dort, wurde ich von neuem entsetzt über das was der Kandidat Bolsonaro sagte und das was meine Familie ihm abkaufte.

In diesen Wochen vor der Wahl habe ich mich zu Tode geredet, zugehört und versucht, die Leute, die Stimmung dort zu verstehen, mich in sie hineinzuversetzen. Es gelang mir nicht… Ich versuchte wie viele andere noch das Unheil abzuwenden, zunächst noch dort, dann aus der Ferne über das Netz, aber die Mühe war vergebens. Das Ergebnis kennen wir. Es hat etwa 1 Jahr gedauert bis ich diese Niederlage verdauen konnte und mich wieder aufgerafft habe, um in den demokratischen Widerstand zur Bolsonaro-Regierung zu gehen. Jetzt organisieren wir uns, v.a. online und dezentral überall, wo sich ein paar progressive Brasilianer*innen finden. Und wir kämpfen. Wir hoffen wieder. Wir spenden uns gegenseitig Kraft.

Das Minimalziel: die völkermörderische, faschistische Politik dieser Regierung stoppen.

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