Warum die Welt am Abgrund steht und es uns trotzdem gut geht
„Wir leben in schwierigen Zeiten.“ Diese Aussage gilt als allgemeingültige Maxime, man könnte meinen als kategorisches Imperativ der Postmoderne. Tatsächlich werden grandiose Fortschritte auf der gesamten Welt erzielt, das aber meist kaum beachtet. Seit 1990 hat sich die Fehlgeburtenrate halbiert und rund 1,4 Mrd. Menschen sind aus der absoluten Armut entkommen. Die Todesstrafe wird in immer weniger Ländern ausgeführt und immer mehr Regierungschefs werden demokratisch gewählt. Das alles wäre doch Grund zur Freude. Man könnte sagen, dass die jetzige Welt die beste ist, die wir je hatten. Stattdessen werden Katastrophenszenarien ausgerufen und konstruiert.
Eine derartige Diskrepanz zwischen Realität und Empfinden ist kein neues Phänomen. Blickt man in die Historie, so lässt sich ein bestimmtes Muster erkennen. In Zeiten großer Umweltzungen formieren sich antagonistische Gruppierungen, die der Fortschrittsoptimisten und der Pessimisten. Sie stehen sich meist unversöhnlich gegenüber und streiten um die Deutung und die Reaktion auf die stattfindenden Umbrüche. Die Konsequenz ist meist ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Überforderung in weiten Teilen der Gesellschaft. Eine weitere Folge ist das Misstrauen. Sowohl in Institutionen oder Obrigkeiten als auch in die Wissenschaft und somit in die Fakten. Eine gemeinsame Anerkennung von Fakten fällt folglich immer schwerer, was den Dialog behindert und die Demokratie schlussendlich gefährden kann.
Fehlende Übersichtlichkeit und ein gewisses Fortschrittsmisstrauen führen zum unreflektierten Wunsch nach einer verständlichen, stabilen und homogenen Gesellschaftsform. Schnell kommt man dadurch zum Schluss, sich nostalgisch der Vergangenheit, meist der eigenen Kindheit zu widmen. Hier spielt uns unser Gedächtnis einen Streich und verklärt die Lebenszustände in der Jugend. Die mütterliche Fürsorge, die väterliche Stränge gekoppelt an die Sicherheit des Elternhauses, scheint zum Sehnsuchtsort zu werden. Dieses familiäre Bild der Harmonie wird anschließend auf die politische Ebene projetziert.
Diesen individuellen Vorgang nutzen nun autoritäre Demagogen, um die „Verunsicherten“ an sich und ihre Ideologie zu binden. Sie versprechen die Welt von früher, soggerieren damit dass man den Fortschritt aufhalten könnte und stürzen sich auf einen Sündenbock, der für alle Veränderungen verantwortlich gemacht wird. Ihr Auftreten orientiert sich eben an jenem kindlich-archaischem Elternbild. Nach außen haben sie etwas väterliches und strenges, während sie ihre Mitläufer mütterlich hüten. So zumindest soll es wirken.
Das Problem des Familienhauses ist dass man dort Zuflucht von der Außenwelt sucht, sich von den Einflüssen abschotten und isolieren will. Durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel sind Veränderungen jedoch immer dynamischer und vielschichtiger. Man kann sich dem nicht entziehen und durch die Abschottung entfremdet man sich noch zusätzlich von dem Rest der Welt. Der Ausweg für viele ist die eigene, parallele Welt, die von der autoritären Ideologie und ihren Feindbildern geprägt ist. Diese Menschen sehen im Andersdenkenden nicht einen Konkurrenten um Meinungsvorherrschaft, sondern eine Gefahr für die eigene Existenz, egal in welche Kategorie man sich einordnen will. Das ist der sogenannte Kulturkampf, den die Rechtsextremen in den 20ern gegen die Republik geführt und aktuell anscheinend wieder ausgerufen haben.
Dieser Kampf richtet sich gegen die Demokratie, gegen die Errungenschaften für Gesellschaft und Individuum, die mühsam dialektisch ausgefochten wurden. Der Autoritarismus versteht nicht die Zusammenhänge einer komplexen Welt und will sie nicht verstehen. Er boykottiert demokratische Verfahren, weil der Kompromiss als Schwäche und Dialog als Verlust gelten. Aber im Grunde genommen ist es die Angst, die das Autoritäre formt und stärkt. Männer, die sich vor der weiblichen Emanzipation fürchten; Weiße, die sich vor der ethnischen Emanzipation fürchten; Heterosexuelle, die sich vor der sexuellen Emanzipation fürchten. All diese vereint genau eines, die Furcht.
So bleibt im Fazit nur noch die Bitte, gegen diese Furcht anzukämpfen, überall wo sie einem begegnet. Denn die beste Welt aller Zeiten hat viele Feinde, die sie zerstören wollen.