Gegen das System der Krisenproduktion
Unwiederkehrbare Umweltzerstörung, massive Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung von Menschen und Natur v.a. in Entwicklungsländern, grassierende Ungerechtigkeiten und aufflammende Konflikte… die Gründe, dem Kapitalismus gegenüber kritisch eingestellt zu sein sind vielfältig. Doch komischerweise wagt es heute trotz der massivsten Krise der Nachkriegszeit, kaum eine*r den Kapitalismus anzuzweifeln. Wieso?
Wirtschaftskrisen sind traditionell die Zeitfenster, an denen Kapitalismuskritiker*innen eine Chance wittern, gehör zu finden und etwas an diesem scheinbar alternativlosen System zu verändern. So auch in der letzten großen Finanzkrise von 2008. Angesichts historischer Wirtschaftseinbrüche im Zuge der Corona-Pandemie, verwundert es aber doch, wieso wir keine Diskussion über bessere Wege des Wirtschaftens diskutieren.
Wo bleibt die Grundsatzdiskussion? Wo bleibt das konstruktive Aufbegehren und Hinterfragen der Strukturen, die Pandemie und weitere Krisen verursacht haben? Wo bleibt der Blick, die Vision in die Zukunft, die über das nächste Urlaubsziel nach dem Lockdown hinausgeht?
Es könnte an der Natur der Krise liegen, die sich dieses Mal deutlich von klassischen Wirtschaftskrisen unterscheidet, wo entweder Rohstoffknappheit herrscht, Lieferketten unterbrochen werden oder nach Blasenbildungen das Vertrauen in die Märkte bricht. Diese Krise hingegen ist keine, die durch Produktionsprobleme (Angebotsseitig) oder nachfrageseitig durch Massenarbeitslosigkeit verursacht wurde, sondern durch einen sog. externen Schock. Bei der Ölkrise begann man die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Erdöl zu hinterfragen, um sich resilienter zu machen. Nach der Finanzkrise, war das Thema Bankenregulierung besonders wichtig. „Für Corona aber, kann der Kapitalismus doch nichts“ ist die verbreitete Lesart dieser Krise, ein fataler Fehler.
Wir verbrauchen immer mehr Ressourcen, um sie dann zu verfeuern. Dafür dringen wir in Gebiete vor, die der Natur vorbehalten waren. Wir treiben Wildtiere in enge, noch verbliebene Räume So kommen wir mit Tieren und deren Krankheiten in Kontakt, für die wir bislang keine Antikörper gebildet haben. Durch unser globalisiertes Handelssystem, verbreiten sich diese neuartigen Krankheiten dann umso schneller. Die Masern, eine Krankheit, die Millionen von Opfern gefordert hat und die wir bis heute noch nicht ausmerzen konnten, wurde als Rinderpest von Kühen ca. im Jahre 500 v.Chr. auf den Menschen übertragen.
Und das ist nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, was uns noch erwartet. Denn mit der globalen Erhitzung können sich Krankheiten, die v.a. von Insekten übertragen werden, stärker verbreiten, schneller vermehren und dadurch auch öfter mutieren als sonst. Auch wir previlligierten Bewohner*innen gemäßigter Breitengrade sind nicht davon verschont. So wurde die Tiegermücke, die Zika, Dengue-, Gelb-fieber und weitere Krankheiten überträgt, bereits nördlich der Alpen gesichtet.
Von globaler Gerechtigkeit keine Spur
Tiegermücke ist ein gutes Stichwort, denn mit dieser Plage müssen sich viele Länder des globalen Südens schon seit Jahrzehnten herumschlagen. Der Sars Ausbruch in Südostasien, wurde fast so gleichgültig hingenommen wie die Ebola-Epidemie in Westafrika, die viele Tausend Opfer gefordert hat. Sind wir so ich-fixiert? Ist uns die Welt, sind uns die Menschen egal, die nicht im engsten Umfeld an unserem Leben teilhaben?
Wie erleben was globale Ungerechtigkeit bedeutet auch aktuell an der Frage der globalen Impfstoffverteilung. Bislang wurden über 75% der Impfstoffe in 10 Ländern verimpft, allesamt Industriestaaten. Der FDP-ler Friz fragt sich sicher jetzt: Was ist falsch daran? Wir haben die Impfstoffe entwickelt und mit staatlichen Fördermitteln finanziert. Da hat er nicht unrecht. Die Frage ist aber, warum „wir Industriestaaten“ das konnten und „die anderen“ das nicht. Anhand eines verkürzten Gedankenexperiments wird es vielleicht auch für den FDP-ler deutlicher.
Die EU schließt mit Afrika sog. EPAs ab also eine Art Freihandelsabkommen; das ermöglicht es uns unsere durch unökologische Subventionen überproduzierte Menge z.B. an Geflügelresten oder Tomatenmark, zu Spottpreisen dorthin zu exportieren. Dort ansässige Kleinbetriebe können diesen Preiskampf nicht gewinnen und müssen aufgeben. Der Niedergang landwirtschaftlicher oder handwerklich tätiger Familienbetriebe, hindert sie daran, ihren Kindern eine weiterführende Ausbildung zu finanzieren. Anstatt ihrem Traum nachzugehen z.B. Chemikerin oder Engeniör zu werden, werden sie entweder zu miserablen Bedingungen in ausländischen Großkonzernen beschäftigt, die die Rohstoffe ihrer Heimat gewinnbringend für die Industriestaaten verarbeiten oder sie treten die Flucht nach Europa an, um eine bessere Perspektive zu haben. Wenn sie überhaupt lebend ankommen, werden sie hier wie Dreck behandelt. Die wenigen Menschen in diesen Ländern, die schon heute eine gute Ausbildung genossen haben und die Möglichkeit hätten z.B. in die Forschung zu gehen, beklagen sich über fehlende Forschungseinrichtungen, renommierte Universitäten oder Finanzmittel, weil ein durch wirtschaftliche Abhängigkeiten gebeutelter und oft auch durch Mithilfe mancher Industriestaaten korrupter Staat, keine Gelder für diese Bereiche zur Verfügung stellt. Enttäuscht, kehren diese gutqualifizierten Akademiker*innen ihren Heimatländern den Rücken zu und nehmen gut bezahlte und anerkannte Jobs in eben diesen Industriestaaten an. Das sog. Braindrain.
Also ist es das Mindeste, dass die Länder, die von diesem Wirtschaftssystem profitieren und über Impfstoff verfügen, diesen dem globalen Süden zur Verfügung stellen und das ohne sich gönnerhaft aufzuspielen. Es ist unsere verdammte Verantwortung!
Aber zurück zum Ausgangspunkt. Dass Corona auch ein Ergebnis unseres kapitalistischen Handelns ist, liegt nicht auf der Hand. Umso wichtiger ist es, die Zusammenhänge offenzulegen und zu kommunizieren.
Denn während sich die meisten noch mit Diskussionen über Lockdowns und Restriktionen beschäftigen, arbeiten Lobbyisten einiger Wirtschaftsverbände und Branchen intensiv daran, den vor Corona zaghaft eingeschlagenen Weg der sozialökologischen Transformation, zu begraben und zurück in neoliberale „Glanzzeiten“ zu gehen, von denen Kandidaten wie Friedrich Merz (mit e) nachts träumen.
Eine beklemmende Diagnose
Doch da könnte noch ein Anderer Grund existieren, weshalb sich niemand ernsthaft mit den strukturellen Mängeln unseres Wirtschaftssystems befassen will oder dazu momentan bereit ist. Wir sind so dermaßen durchdrungen von Konsumindividualismus und Ellenbogengesellschaft, dass es und schlichtweg egal zu sein scheint, wie es weitergeht, Hauptsache der Konsumrausch geht vermeintlich unbeschwert weiter. Denn des Deutschen größte Befriedigung ist es am Wochenende nach Malle zu fliegen, um sich die Birne weg zu saufen; daheim eine Tonne Würstchen von Tönjes am Tag (für 1,49€) zu verschlingen und die „Freiheit“ zu verspüren, mit 250 Sachen die anderen Verkehrsteilnehmer*innen in Angst und Schrecken zu versetzen.
Ich überzeichne bewusst und ich weiß, dass bei Weitem nicht alle so sind. Aber die Prioritätensetzung vieler Menschen scheint sich im Laufe dieses Corona-Jahres verändert zu haben oder zumindest jetzt offener zutage zu treten. Auf die Frage, die ich vielen Leuten stelle, was sie am meisten im Lockdown vermissen und was sie als erstes machen wollen, wenn es vorbei ist, erhalte ich immer häufiger die Antwort: Schoppen, Feiern, Fliegen… Was ist mit umarmen, miteinander entspannt reden, Verwandte besuchen oder in die Schule gehen?
Das Zwischenmenschliche geht ein Stück durch die verordnete physische Distanzierung verloren und damit der Wille, der Welt und seinen Mitmenschen etwas Gutes tun zu wollen, sich um sie zu kümmern und zu sorgen. Ich hoffe, ich irre mich.
Es wäre fatal, wenn ein Virus, der wie selten zuvor unsere Solidarität erfordert, zum endgültigen Siegeszug des Egoismus beitragen würde.
Quellen:
TAZ: 8.2.2021 zu einer wirklich spannenden Studie über den Zusammenhang von Corona Ausbruch und Klimakrise
https://taz.de/Erderhitzung-beguenstigte-Sars-CoV-2/!5746419&s=gutes+Klima+f%C3%BCr+Corona/
Der Standard:
https://www.derstandard.de/story/2000123710487/was-kommt-nach-corona-ueber-die-hueter-des-gestern