Gesunder Patriotismus? Nicht wirklich

2014 blickte die ganze Welt nach Brasilien. Die WM stand vor der Tür und das fußballverrückte Land von Pelé und Ronaldo war endlich Gastgeber. Damals wirkte dies als die Krönung für eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Brasilien war angekommen, als regionale Vormacht, als internationale Marktwirtschaft und nicht zuletzt als stabile Demokratie. 40 Mio Menschen konnten zur Mittelschicht aufschließen, die Analphabetismus-Rate so niedrig wie noch nie, ein wachsendes Umweltbewusstsein und eine augenscheinliche Befriedung der ethnischen Konflikte brachten viel internationale Anerkennung. Viele Brasilianer waren wieder stolz auf ihr Land und die WM im eigenen Land sollte die Nationalmannschaft, die wichtigste Instanz im Brasilianischen Bewusstsein, endgültig mit den Anhängern versöhnen. Das Nationalgefühl war allgegenwärtig und fand seinen gewaltigsten Ausdruck vor den WM-Spielen der Seleçao. Alle sangen die ganze Hymne, trotz des Schnittes in der Musik. Man wollte das ganze Brasilien zeigen und sich nichts aufdrücken lassen.

Seitdem ging alles den Bach runter. Absetzung der Präsidentin, ein gesichtsloser und korrupter Ersatz und der wegweisende Wahlkampf 2018 mit dem dramatischen Ausgang für jeden Oppositionellen, Gewerkschafter, Umweltschützer, LGBTIQ-Aktivisten, Dunkelhäutigen oder Indigenen. Die Hymne, die einst von den fußballbegeisterten Rängen skandiert wurde, die das Potential zu haben schien, das Land zu vereinen, ist jetzt zum Totenlied einer aufstrebenden Demokratie geworden. Die Anhänger des faschistoiden Jair Bolsonaro gingen mit den Trikots auf die Straße, doch dieses Mal nicht, um Fußball zu feiern, sondern um Jagd auf Andersdenkende zu machen, sie zu verprügeln, Steine nach ihnen zu werfen oder sie zu bedrohen. Sie brüllten ihre Hymne, für ihr Brasilien, das weiß, autoritär, frauenfeindlich und kolonialistisch zu sein hat. Nun sie haben ihr Ziel erreicht.

Wie schon so oft im Laufe der Geschichte, ist ein inklusiver Patriotismus zu einem maßlos radikalen, aggressivem Trennungsbegriff geworden. Der so gelobte positive Patriotismus Brasiliens war ein Trugbild, in dem Intoleranz und antidemokratische Tendenzen wunderbar gedeihen konnten. So wurden die Töne der ursprünglich gegen Korruption gerichteten Bürgerproteste immer radikaler. Die Allianz von Militär, Evangelikalen und Wirtschaftsbossen hat diese Bewegung unterwandert, die Wut gegen Korruption zur Systemkritik umgedeutet und den Faschismus zu der ungeheuerlichen Kraft verholfen, die sich jetzt in den Wahlergebnissen niederschlug. Die Demokratie stand plötzlich zur Disposition und die grausame Militärdiktatur von 1964-85 wurde als Zeit der Stabilität und Gleichheit  verklärt. Die fehlende historische Aufarbeitung dieser Zeit begünstigte den Aufstand der Unwissenden natürlich noch zusätzlich.

Und jetzt steuert Brasilien in eine ungewisse Zukunft. Ob gleich zur Diktatur oder graduell unterliegt jetzt der Laune des Mythos, wie er liebevoll von seinen Schlägern genannt wird.

Die Entwicklung in Brasilien muss allen jenen eine Lehre sein, die glauben mit Patriotismus Nationalismus bekämpfen zu können. Auch Macron tappte in diese Falle, als er seine Rede zum Gedenken an die 100-Jahre Kriegsende hielt. Der Grundsatz: „Wer mit dem Feuer spielt, wird sich verbrennen“ darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

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