Eine Krise, die wie keine zweite plötzlich aufgetreten ist und deren Lösung wohl noch etwas auf sich warten lässt. Nach einem halben Jahr unter Corona-Bedingungen, nach der Einigkeit der ersten Wochen ergeben sich neue Probleme und neue Erwartungen an Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Zeit für eine Zwischenbilanz:
- Unsere Demokratie ist stark
- Unser Wirtschaftssystem nicht so sehr
- Zu lernen, welche Tätigkeiten und Berufe wirklich wichtig für eine Gesellschaft sind, muss mit konkreten und weitreichenden Reformen der Arbeitsstruktur v.a. von Reproduktionsberufen sowie einem Umdenken einhergehen.
- Systemrelevant ist die Bildung, nicht die Bundesliga
- Wir können den öffentlichen Raum in Städten anders benutzen, ohne dass die (Auto)Welt untergeht
- Lobbyisten agieren immer scharmloser in ihren Versuchen, die Gesellschaft übers Ohr zu hauen
- Faschisten in den Regierungen sind eine Gefahr für die allgemeine Gesundheit
- Während Corona vergeht, bleibt die Klimakrise akut
- Ein Virus hat in Wochen mehr Digitalisiert als die Bundesregierung in 15 Jahren, peinlich
- Es gibt wohl eine Deutsche Party-Wut, die nicht nur Vorteile mit sich bringt.
- Unsere Demokratie ist stark
Viele wähnten sie im Untergang, manche durchaus wohlwollend, aber sie ist stark. Unsere Demokratie mit ihrer Verfassung und v.a. ihren demokratischen Bürger*innen hat gezeigt, dass sie krisenfest ist. Eine Überregulierung durch die Exekutive, das Engagement des Bundesgesundheitsministers, welches manchmal zu viel des Guten war, sind zwar recht spät, aber kraftvoll entweder von Gerichten kassiert oder von Opposition und Bevölkerung beanstandet worden. Nun diskutieren wieder über alle möglichen Themen, Probleme und Folgen der Krisenstrategie und das ist gut so, denn es zeugt von einer lebendigen Debattenkultur. Obwohl auch manch zwielichtige Gestalten wieder demonstrieren und Neonazis sich die Debatte zu Eigen machen wollen, gibt es Widerstand.
2. Unser Wirtschaftssystem nicht so sehr
Die Konjunktureinbrüche im 2. Quartal diesen Jahres sprechen eine deutliche Sprache. 10,1% in Deutschland, 32,9% in den USA verdeutlichen, wie fragil das globale Wirtschaftssystem ist, welches wir uns durch den Neoliberalismus geschaffen haben. Anstatt jetzt einem zukunftsblinden Wachstumsfetischismus zu verfallen, wie es reflexhaft nach jeder Wirtschaftskrise geschieht, sollten wir die systemischen Mängel wahrnehmen und versuchen, diese zu entschärfen. Für mich sind einige dieser Mängel Kapitalkonzentration im globalen Norden und Auslagerung von Arbeit in den globalen Süden aufgrund geringerer Standards; Steuersümpfe und von vielen geduldete Steuerkriminalität; unfaire Freihandelsverträge; die Degradierung von Menschen als Datenressourcen für digitale Kraken; die fehlende Internalisierung von Klima- und Umweltschäden durch Produktion; ein Wachstumszwang zur Erhaltung von Arbeitsplätzen (Stichwort: Rationalisierungsschwelle), die zu einer für Regierungen unbequemen Situation führen, da Multinationale Unternehmen Staaten umgehen und erpressen können. Kurzum, dass durch Marktmacht auch politische Macht erwächst.
Diese Debatte äußert sich v.a. in der Forderung, Handelsketten von Medizinprodukten zu verkürzen, um so eine stärkere Unabhängigkeit und Resilienz zu erreichen. Mit Renationalisierung alleine aber, ist nicht viel gewonnen, wobei die Gefahr des Aufkommens geistiger Grenzen hierbei nicht zu unterschätzen ist.
3. Zu lernen, welche Tätigkeiten und Berufe wirklich wichtig für eine Gesellschaft sind, muss mit konkreten und weitreichenden Reformen der Arbeitsstruktur v.a. von Reproduktionsberufen sowie einem Umdenken einhergehen.
Diese Problematik schließt an die unter Punkt2 diskutierten Mängel unseres Wirtschaftssystems. Die Corona-Krise zeigt zudem, dass dieser ökonomischen Diskriminierung je nach Arbeitstätigkeit auch eine Geschlechterkomponente innewohnt, denn besonders die Branchen, in denen Frauen überrepräsentiert sind, sind strukturell unterbezahlt und unterbesetzt, haben sich in der Krise zugleich als wichtiger erwiesen als viele gutdotierte und hoch angesehene Stelle z.B. in der Automobilindustrie, die meist von Männern besetzt wird.
4. Systemrelevant ist die Bildung, nicht die Bundesliga
Eigentlich selbstredend aber die Lobby des Fußballs ist nun mal deutlich zahlungskräftiger als die der Kinder. Eigentlich erbärmlich für eine sog. „Bildungsrepublik“, die ja von der Kanzlerin höchst persönlich, 2013 ausgerufen wurde.
Die Bildungsungerechtigkeiten je nach Ausbildung der Eltern ist im Schulsystem schon in nicht-Krisenzeiten frappierend, jetzt bleiben Kinder auf der Strecke, deren Elternhaus sich kein weiteres Laptop leisten kann.
5. Wir können den öffentlichen Raum in Städten anders benutzen, ohne dass die (Auto)Welt untergeht
Das Zauberwort lautet: „pop-up Radwege“
Ein erster, wirklich kleiner Schritt zur Mobilitätswende in Großstädten. Einfach eine Fahrbahn weniger für das Auto. Das sollte Schule machen. Es ist einfach, sehr wirksam, Klimafreundlich und praktisch. Nun bricht die Diskussion aus, ob diese Radwege von Dauer sein sollen. Ich finde Ja!
6. Lobbyisten agieren immer scharmloser in ihren Versuchen, die Gesellschaft übers Ohr zu hauen
Sie nutzen tatsächlich die mediale Fokussierung auf Corona, um unliebsame Gesetze, die von vielen Menschen Jahre lang mühsam erkämpft wurden, wieder zu kippen. So war die Verschiebung des CO2-Preises, der Düngerichtlinie, sämtlicher Umweltauflagen und des EU-Green-New-Deals tatsächlich im Raum gestanden. Das Kohleausstiegsgesetz, das die Regierungsfraktionen im Sommer verabschiedet haben, verdient den eigenen Namen nicht; die Reform der EEG-Umlage untergräbt den Ausbau von Wind und Solarstrom; die Neuverhandlung der GAP (gemeinsame Agrarpolitik) der EU ist ein Tiefschlag für alle, die sich ein bisschen Fortschritte in der Agrarwende erhofft hatten.
Die Lehre daraus: Die Zivilgesellschaft darf nicht wegschauen. Auch wenn es mühsam ist
7. Faschisten in den Regierungen sind eine Gefahr für die allgemeine Gesundheit
Blick nach Großbritannien…
Blick in die USA…
Blick nach Brasilien…
Noch Fragen???
8. Während Corona vergeht, bleibt die Klimakrise akut
Hier spielen wieder Punkt2 und 6 eine Rolle. Es ist klar, dass ein Weiter-so nach überstandenem Virus keine Option ist, wenn wir noch eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft haben wollen.
Sehr lesenswert ist hierbei die von Fridays for Future in Auftrag gegebene Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, welches geeignete Maßnahmen für eine nur 1,5°c wärmere Welt auslotet. Das würde in Deutschland die Klimaneutralität im Jahr 2035 voraussetzen. 15 Jahre früher als von der Bundesregierung geplant und wir wissen ja, wie ernst die Regierung ihre Langfristziele nimmt.
Machbarkeitsstudie 1,5°: https://fridaysforfuture.de/studie/
Fest steht: Dieses große Ziel kann nur erreicht werden, wenn im nächsten Jahr ein Regierungswechsel zu Stande kommt.
9. Ein Virus hat in Wochen mehr Digitalisiert als die Bundesregierung in 15 Jahren, peinlich
Leider zeigt sich auch hier wieder die Inkompetenz der Regierung, denn besonders in den Schulen fehlt es an allem: Geräten, Software, Schulungen und Expert*innen. Das muss nachgeholt werden.
10. Es gibt wohl eine Deutsche Party-Wut, die nicht nur Vorteile mit sich bringt.
Das zumindest ist der Eindruck, den man nach dem Sommer gewinnen konnte und der sich mit der 2. Infektionswelle zu bestätigen scheint. Der kurzsichtige Hedonismus ist schon seit langem die größte Schwäche unseres Lebensstils und zeigt sich als verheerender Bote politischer Untätigkeit. Entbehrungen für eine Weile hinzunehmen, um später länger und besser zu leben ist noch zu unattraktiv, um flächendeckend verfolgt zu werden. Die Hoffnung bleibt, dass wir langsam aus diesen vielen Erfahrungen lernen.